Diersens Aufsatz (1960) über ‚Königliche Hoheit‘

Die ‚Untersuchungen zu Thomas Mann‘ von Inge Diersen aus dem Jahre 1959 enthält auch einen Aufsatz über Königliche Hoheit. Darin kommt Diersen fast zu der gleichen Auslegung des Romans wie Martin Havenstein – jedoch aus ganz anderer ideologischer Warte und darum mit zum Teil umgekehrter Bewertung von dem künstlerischen Rang des Romans. So hebt auch Diersen die Beziehung des Romans zu der zeitgeschichtlichen Wirklichkeit hervor: „Der Roman ist zu stark in zeitgenössisch-konkreten Verhältnissen angesiedelt, als dass es statthaft wäre, ohne weiteres von ihnen und den damit zusammenhängenden politisch-ökonomischen Fragen, die in den Roman hineinspielen, zu abstrahieren“ (76). Gelesen auf dieser Realebene sieht Diersen – wie Havenstein – die Romanhandlung eine Vermählung von Aristokratie und Bürgertum herbeiführen: „Da wird zwischen der alten Feudalklasse, repräsentiert durch ein etwas müdes Fürstengeschlecht, und der modernen Bourgeoisie, repräsentiert durch den Dollar-Millionär Samuel N. Spoelmann und seine Tochter, ein Bündnis geschlossen“ (76). Dieses Bündnis sei eine treffende Analyse der gesellschaftlich-sozialen Dynamiken des wilhelminischen Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg, wenn es aber im Roman als ein Glück dargestellt wird, ist dies aus der Sicht Diersens „äusserst reaktionär“:

„Denn wenn sich auch die Tendenz des Romans keinesfalls in diesem politisch-ökonomischen Heilsrezept erschöpft, wenn man durchaus als sicher annehmen darf, dass Thomas Mann sich über diese Seite seines Romans wenig Gedanken gemacht hat, dass er die politisch-ökonomischen Realitäten nur als Rahmen, als Einkleidung benutzt hat – das politisch-ökonomische Heilsrezept steht seinem ganz nackten Sinn nach nun einmal so da, und die Einkleidung tut ihre Wirkung, unabhängig davon, welche Bedeutung Thomas Mann selbst ihr zumisst“ (77).

Mit dieser Formulierung von der ‚Einkleidung‘, hinter der sich eine „tiefere“ oder andere Bedeutungsschicht birgt, berührt Diersen nun ein Aspekt, das später auch andere Forscher beschäftigen wird und das ich an dieser Stelle vorläufig mit dem Begriff der ‚doppelten Optik‘ umschreiben möchte und das sich mit Gedanken trifft, die Thomas Mann in dem mit Königliche Hoheit gleichzeitig verfassten Essay Bilse und Ich entfaltet.

Die tiefere Bedeutung des Romans liegt nun, Diersen zufolge, darin, dass Thomas Mann seine eigene Probleme als Künstler in der fürstlichen Einkleidung dargestellt hat. Diersen nennt es „Problem-Übertragung“ (78):

„Wenn man bei den beiden Helden des Romans, bei Klaus Heinrich und bei Imma Spoelmann, von ihrer sozialen Stellung und politisch-ökonomischem Charakter abstrahiert, dann bleiben zwei junge Menschen, die, ähnlich einem Tonio Kröger oder einem Hanno Buddenbrook, isoliert vom Leben der anderen Menschen aufgewachsen sind, die zu diesem Leben in einem sehr distanzierten, ausgesonderten Verhältnis stehen und an ihm nur aus reservierter Ferne teilhaben. Ihre Geschichte lässt die beiden Einsamen und Isolierten ein Stück Kontakt zum Leben, ein Stück Gemeinsamkeit mit den anderen Menschen, mit dem Volk gewinnen, führt sie aus einsamer Kälte zur Menschlichkeit“ (79-80).

Hier kommt erneut die Deutung von der abgesonderten Existenz zum Vorschein, die auch Havenstein vertritt. In Imma Spoelmann sieht Diersen die Figur, die Klaus Heinrich zur Menschlichkeit und zur Liebe leiten kann, denn sie habe in Sachen menschlicher Erfahrung etwas von Klaus Heinrich voraus (80). Durch die Beziehung zu ihr vermöge es Klaus Heinrich auch, die Herrenmoral-Lehre und den Anti-Humanismus seines Mentors Dr. Überbein zu überwinden (80).

„Wenn man den Gehalt des Romans auf diese allgemeine Formel bringt, wenn man also von allem politisch, sozial und ökonomisch Konkreten abstrahiert, dann ist es nicht schwer, in dieser Lösung des Themas eine Antwort auf eigene Probleme Thomas Manns zu sehen. Es ist in ihrem Kern dieselbe Antwort, die Tonio Kröger am Schluss der Novelle gegeben hat, wenn er den Weg zur Rettung der Kunst in der Wiedergewinnung eines positiven Verhältnisses zu den Menschen, in einer Re-Humanisierung der Kunst sieht. Der Roman Königliche Hoheit bringt in allgemeinerer Form noch einmal das Bekenntnis zur Volksverbundenheitsutopie Tonio Krögers“ (81)

Sobald man aber die reale zeitgenössisch-gesellschaftliche Einkleidung der Prinzengeschichte mitdenkt – und darum kommt man nach Diersen nicht herum -, bleibt die „Botschaft“ des Romans für sie letztendlich konservativ und reaktionär. Die Konklusion lautet bei ihr, dass „in der Roman Königliche Hoheit die Künstlerproblematik auf einen Gegenstand übertragen [wird], die ihr nicht angemessen ist“ (75).

Soviel zur inhaltlichen Deutung des Romans durch Inge Diersen. Was ihre wissenschaftlich-methodologische Fundierung der Deutung anbelangt, findet sich im Aufsatz – und auch in der Einleitung zu ihrem Buch – fast keine Angaben. Das Verfahren, das sie bei der Ermittlung der „tieferen“ Bedeutung des Romans – die Bedeutung, die sich in oder hinter der ‚Einkleidung‘ versteckt – verwendet, besteht in der Einbeziehung von Thomas Manns Kommentaren zum Roman. Diersen weist dabei auf einen Kommentar vom Jahre 1910 hin, der wie folgt lautet: „Sie (die ‚Zunftkritik‘, I.D.) zerbrach sich den Kopf darüber, wie in aller Welt ich wohl auf diesen entlegenen und spröden Stoff verfallen sein möge, – gerade, als ob ich es je mit einem anderen „Stoff“ zu tun gehabt hätte, als mit meinem eigenen Leben. Wer ist ein Dichter? Der, dessen Leben symbolisch ist. In mit lebt der Glaube, daß ich nur von mit zu erzählen brauche, um auch der Zeit, der Allgemeinheit die Zunge zu lösen, und ohne diesen Glauben könnte ich mich die Mühen des Produzierens entschlagen. Königliche Hoheit ist nicht irgendein willkürlich gewählter Stoff, in welchem mein ‚Virtuosentum‘ sich verbiß und auf den meine Unkenntnis kein Anrecht hatte. Sondern indem ich, nach meinen Kräften, an dem Streben einiger weniger teilnahm, den deutschen Roman als Kunstform zu adeln und zu erhöhen, erzählte ich, auch diesmal, von meinem Leben“ (77-78). In direktem Anschluss an diesem Zitat fährt Diersen dann fort: „Diese Äusserung – eine von vielen, in denen Thomas Mann über die Bedeutung seines eigenen Lebens als Stoff- und Problemgrundlage seines Schaffens spricht – bietet den Schlüssel zum tieferen Verständnis von Königliche Hoheit“ (78). Diese Verwendung der Selbstkommentare Thomas Manns als ‚Schlüssel‘ zum tieferen Verständnis seines Werkes birgt in sich eine Reihe von methodologischen Problemstellungen, auf die Diersen aber nicht eingeht. Das Verfahren, das Diersen hier als quasi selbsteinleuchtend praktiziert, wird sich in der folgenden Forschungsgeschichte zu Königliche Hoheit als ein anerkanntes und oft bemühtes interpretatorisches Verfahren einbürgern. Ich werde anderswo/später auf die Herausforderungen, die mit einem solchen Verfahren verbunden sind, näher eingehen.

Nur ganz ansatzweise berührt Diersen das Aspekt der Vermittlung des Geschehens im Roman. Sie spricht der Erzählweise jede Art von Satire ab, erwägt aber kurz, inwiefern eine ironische Erzählhaltung im Text zur Geltung kommt:

„Zudem bleibt in der Schwebe, on die Ironie nicht sowohl dem verstaubt-anachronistischen Monarchismus wie zugleich dem Menschlichkeitsbekenntnis gilt, ob hier nicht „Ironie nach beiden Seiten“ ist, die alles wieder aufhebt“ (82)

Diersen kommt diesbezüglich zu keinem Ergebnis. Dieses Aspekt der ironischen Vermittlung gilt als eines der unerschöpflichsten Themen der gesammten Thomas Mann-Forschung, und es wird in Bezug auf Königliche Hoheit wenige Jahre später von Reinhart Baumgart aufgegriffen. 

Über diese knappe Überlegung zur Ironie hinaus gibt es bei Diersen keine expliziten Betrachtungen zu der spezifisch künstlerischen Verfasstheit des Romans. Aus meiner obigen Behandlung ihres Aufsatzes kann jedoch erschlossen werden, dass Diersen den Roman als einen durchaus realistischen Roman liest, dessen Bezüge zum Wirklichen und zur Zeitgeschichte sich ohne weiteres ablesen lassen.

Diersen hat ihr Buch über Thomas Mann ausdrücklich ‚Untersuchungen‘ betitelt, was doch Wissenschaftlichkeit signalisiert. Das Buch ist nicht ohne interessante Beobachtungen zum Werk Thomas Manns, aus einer kritischen Sicht muss aber festgestellt werden, dass Diersen Untersuchungen anstellt, ohne deren methodologischen Voraussetzungen und Bedingungen offen darzulegen.

Abschliessend soll bemerkt werden, dass bei Diersen dem Leser eine Arbeitsweise begegnet, die sich auch als durchgängiges Muster in der Forschung zu Königliche Hoheit abzeichnet, nämlich die, dass die Forscher sich ganz überwiegend mit inhalthaltlich-gedanklichen Aspekten, weit weniger mit poetologischen Aspekten beschäftigen. In der Sprache der klassischen Hermeneutik formuliert: Der ‚Inhalt‘ interessiert den Forschern weit mehr als die ‚Form‘. 

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