Altenbergs Beitrag (1961) zu ‚Königliche Hoheit‘

In der Einleitung zu seinem Buch ‚Die Romane Thomas Manns – Versuch einer Deutung‘ aus dem Jahre 1961 führt Paul Altenberg an, dass nur durch „eine eindringende Werkbetrachtung“ und „die genaueste Aufmerksamkeit“ der Weg zur Erkenntnis des geistigen Charakters der Werke Thomas Manns geöffnet werden kann (7). Nach Altenberg muss jede allgemeine Betrachtung vergeblich und unverbindlich bleiben. Dies deutet auf ein textnahes Verfahren, das zudem auch der spezifischen Machart der Werke Rechnung trägt. Alterberg zufolge weist das sprachliche Kunstwerk die gleichen Bildungsgesetze wie in einer „polyphonen Musikschöpfung“ auf: „Das Fugenwerk eines modernen Romans ist nicht nur an den Werken Thomas Manns, sondern an vielen grossen epischen Leistungen, von den ‚Wahlverwandschaften‘ an, mühelos nachzuweisen. Es bestimmt die Struktur der Erzählung, die Folge der Details, ja die Erfindung im Einzelnen und im ganzen. Durch die Wiederholung, Variation, und Alteration des gleichen Themas wird das künstlerische Gebilde zusammengehalten und bedingt“ (8)

Für Altenberg ist Königliche Hoheit nun eine sehr dünne und kaum originelle Geschichte, dessen Kern es herauszuschälen gilt. Die zeitgeschichtlichen Bezüge, die vielen anderen Forschern interessieren, finden bei Altenberg keiner Erwähnung. Den Kern des Romans beschriebt er auf die folgende Weise: „Es handelt sich um ein Dasein, das nur noch Form ist, nur Repräsentation, nur Gehäuse, in dem nichts Lebendiges mehr haust als die schwermütige Empfindung dieser Leere und die Sehnsucht nach Inhalt, nach Gehalt, nach – ja im letzten Sinne doch wohl nach „Lebensbürgerlichkeit“ und Moralität, nach dem Menschlich-Nützlichen“ (28). Dies Menschliche könne nur auf dem Wege über „das wesensmäßig Andere“ gefunden werden, und in Übereinstimmung mit manchen früheren Interpreten sieht Altenberg das Auftauchen von Imma Spoelmann im Leben Klaus Heinrichs als diesen rettenden Weg an: „Hier ist das Andere durchaus auch bürgerlich, aber gewissermaßen von einer anderen Seite her, aus einer anderen Weltgegend, in der es neue, vernünftige, fruchtbare Formen ausgebildet hatte. Auch da hat sich eine Art Hoheit, eine Vornehmheit entwickelt, die aber keineswegs die Verbindung mit dem Wirklichen meidet, um sich „rein“ zu erhalten, sondern die in beständigen und sehr ernsthaften Beziehungen zur Welt lebt“(28-29).  Der unerschöpfliche Reichtum der Spoelmanns bringe eine Freiheit mit sich, die die betagte Existenzform des Fürsten überspiele und die der Liebe zwischen dem Prinzen und dem Kaufmannstocher Raum gebe. So sei ihre Liebe „der Sieg des Lebens über den Tod“ (29)

Es kann gleich festgestellt werden, dass Altenberg – entgegen seiner einleitenden Ankündigung  – seine Interpretation auf einer sehr summarischen Wiedergabe der Romanhandling aufbaut. Die Forderung, man müsse Manns Texte ‚eindringend‘ lesen, löst er mit diesem Verfahren, das gänzlich auf direkte Belegstellen im Text verzichtet, nicht ein. Dies birgt die einleuchtende Gefahr, dass er dem Text nicht Gerecht wird, und zum Beispiel wird man leicht Textstellen anführen können, die sich schwer mit der Deutung Altenbergs von der Familie Spoelmann als Ausdruck gesunder und lebenstüchtiger Bürgerlichkeit in Einklang bringen lassen. So gibt es denn auch neuere Forschungsbeiträge (Baumgart, Zöller, Syfuß), bei denen eine weitaus nuanciertere Deutung von den Spoelmanns zum Vorschein kommt.

Ist nun Altenbergs Buch zu Thomas Mann überhaupt ein Beitrag, der sich als Forschung, als wissenschaftlich versteht? Anscheinend gilt das Buch anderen, neueren Forschern als ein wissenschaftlicher Beitrag, bei Gunter Reiss figuriert das Buch im Verzeichnis „Wissenschaftliche Literatur“. Altenberg seinerseits listet 17 Werke der Sekundärliteratur auf, was auch als Signal von Wissenschaftlichkeit gedeutet werden muss, unklar bleibt aber, ob, wo und wie er diese Literatur für seine eigenen Deutungsversuche nutzt, denn im Laufe seiner Darstellung führt er keine „Gespräche“ mit diesen Werken. Was Altenberg von anderen übernommen oder reproduziert hat, und worin sein eigener Beitrag besteht, ist schwer durchschaubar.

Sicherlich können Forderungen an die Literaturwissenschaft nach Kontinuität und Argumentationszusammenhang nicht in gleicher Weise gestellt werden wie an die Naturwissenschaft, gleichwohl sollte eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem literarischen Werk bemüht sein, bisher entwickelten Einsichten in jeden neuen Ansatz einer Deutung einzubeziehen, auch in Fällen, wo die Ansätze methodologisch unterschiedlich fundiert sind. Wenn dies unterlassen wird, steht der einzelne Beitrag isoliert dar und sieht sich der Gefahr ausgesetzt, früher gemachte Einsichten blindlings zu wiederholen oder sie für die eigene Deutung als ausbauende Stütze zu verfehlen. Der Leser bleibt im Dunklen darüber, wodurch der Beitrag als wissenschaftlicher Beitrag seinen Wert hat. Das „Gespräch“ mit anderen Forschern ist ein grundlegender Aspekt aller Wissenschaft, auf den auch die Literaturwissenschaft nicht verzichten sollte, will sie den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit bewahren.

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