Schon in der frühen Rezeption von Königliche Hoheit zerstritten sich die Rezensenten über den Schluss des Romans. Zwei von den von Thomas Mann besonders geschätzten Stimmen – Ernst Bertram und Kurt Martens – äußerten Bedenken, ja gerade Unglauben an den Optimismus des Romanendes. Bertram nennt das Ende einen von „trüber Selbstironie“ betroffenen „Unwirklichkeitsschluß“ und schreibt weiter: „Diese optimistische Wendung ins Alltagsglück, die Vereinigung der beiden in ihrer Einsamkeit unsicher oder scheinbar lieblos gewordenen Menschenkinder zu einem gemeinsamen „strengen Glück“, in „Hoheit und Liebe“, sie hat zu deutlichen Märchenstil, als dass hier etwas wie eine Lösung des Nichtzulösenden psychologisch gemeint wäre“ (85). Wenige Monate später, im März 1910, scheibt dann Kurt Martens: „Ob der stilistisch entzückende Roman ‚Königliche Hoheit‘ mit seinem überraschenden Abstieg ins Flachland des Optimismus und seiner harmlosen Liebesgeschichte mehr bedeutet als eine idyllische Episode, kann nur Manns nächstes Werk lehren“ (GKFA Briefe I, S. 774). Für viele spätere Kritiker hat der optimistische Schluss zweifelslos zu der Einschätzung des Romans als eines zu leichten Werkes stark beigetragen, was sich dann wiederum zu einem schwachen Interesse der Forschung geführt hat.
Die Überraschung, von der Martens berichtet, läßt sich ohne Zweifel nicht zuletzt auf die Erwartungen der Leser und Kritiker zu dem zweiten Roman vom Autor des Buddenbrooks zurückführen: Wie konnte der „Verfallspezialist“ Thomas Mann ein Werk in die Welt bringen, das seinem ersten Roman in mancher Hinsicht entgegengesetzt zu sein schien?
Die Verwunderung Martens hält bis zum heutigen Tag an. In seinem Buch Ethos und Spiel – Thomas Manns Frühwerk und die Wiener Moderne von 1995 fragt sich Hubert Ohl, wie Thomas Mann ein derart optimistisches und operettenhaftes Werk zu einer Zeit verfassen konnte, wo alle andere Künstler von Rang sich mit den gesellschaftlichen und kulturellen Herausforderungen zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzten. Ohl führt Robert Musil und dessen Die Verwirrungen des Zöglings Törless von 1906, Arthur Schnitzler mit seinem Roman Der Weg ins Freie aus dem Jahre 1908 und Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge aus den Jahren 1909-10 als Beispiele an und fährt fort:
„Bezieht man in diese Übersicht noch Hofmannsthals Vortrag Der Dichter und diese Zeit von 1906-07 sowie seine Briefe des Zurückgekehrten von 1907 ein, dann wird man bemerken, dass alle diese Texte Bemühungen um die geistig-moralische Situation der Zeit darstellen. Alle reagieren sie, auf durchaus unterschiedliche Weise, auf den Vorgang der ‚Modernisierung‘, der seit der Jahrhundertwende mit neuer Qualität auch das Leben in Deutschland, das des Einzelnen wie der Gesellschaft im Ganzen zu verändern beginnt; der die Werte des Herkommens ebenso tangiert wie die Frage nach der Zukunft aller; der als Auflösung früherer Ordnungen das Neue in ungewissem Licht erscheinen lässt oder das bisher Selbstverständliche in die Unübersichtlichkeit neuer Beziehungen versetzt, die dem Einzelnen oft genug als bedrohende Unordnung erscheinen (142).
Und dann in Bezug auf Thomas Manns zweiten Roman:
„Verglichen mit diesen (und thematisch ähnlichen) poetischen und essayistischen Arbeiten jener Jahre nimmt sich Thomas Manns Roman aus, als stammte er von einem anderen Stern, so fern steht er allem, was die Schriftsteller unter seinen Zeitgenossen zwischen der Jahrhundertwende und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bewegt“ (142-43).
Dass die damaligen Künstler auf einer Krise, auf mehreren Krisen sogar, reagierten, hat Ohl ja ganz richtig gesehen. In Stefan Zweigs Die Welt von Gestern wird die Periode um die Jahrhundertwende als ein Zeitalter beschrieben, in der „der Glaube an den ununterbrochenen, unaufhaltsamen ‚Fortschritt‘ wahrhaftig die Kraft einer Religion hatte“ (18). Zur selben Zeit war diese Epoche jedoch auch von der Akzeleration einer grundlegenden Krise geprägt, in der das alte Europa zerbrach und der Glaube an Vernunft und wissenschaftlich-technischen Fortschritt, der seit der Aufklärung das Denken bestimmt hatte, schwand. Besonders unter Künstlern und Intellektuellen griff ein kultureller Pessimismus um sich; ein Aufstand gegen die Idee der Moderne, in dem bereits der zur Weltausstellung in Paris 1889 errichtete stählerne Eiffelturm, 300 Meter hoch, weithin sichtbar vom industriellen Fortschritt kündend, nicht länger als technische Meisterleistung bestaunt, sondern als anmassender neuzeitlicher Turmbau von Babel verurteilt wurde. 1904 notierte Max Weber, bisher unkritisch akzeptierte Ansichten würden in Zweifel gezogen, der Weg sei „verloren im Zwielicht“ (M. Görtemaker 14-15; John Merriman: A History of Modern Europe)
Es scheint in der Tat verwunderlich, wenn dieser Diskurs gerade Thomas Mann nicht geprägt hätte. Hat er – unter Eindruck von seinem persönlichen, in diesen Jahren geradezu glücklichen Schicksal als Ehemann und Vater – die Krisenhaftigkeit der Zeit leichten Fusses übergangen und die Liebe als erlösende Kraft ohne weiteres postuliert?
Thomas Mann war ja frühzeitig auf dem Laufenden über Stand und Entwicklung der europäischen Literatur. Dies belegt seine Essays und Briefe. Die grossen russischen Verfasser, vor allem Tolstoj und Dostojewski, hatten einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn gemacht, er war mit den französischen Realisten Balzac, Flaubert und Zola vertraut, und auch die Dramen von Ibsen schätze er hoch. Im deutschsprachigen Raum hat ihn nachweislich die Werke Fontanes intensiv beschäftigt.
Ein gemeinsamer Nenner für diese Literatur ist eben, dass sie nicht affirmativ ist, sondern dass sie auf ihre je eigene Weise ein immer problematischer werdendes Verhältnis zwischen Individuum und gesellschaftlicher Realität widerspiegelt. Mit seinem Erstlingsroman hatte sich Thomas Mann in diese Entwicklung der europäischen Literatur eingeschrieben. Der zweite Roman aber, welcher Platz kommt ihm in der Literaturgeschichte zu?
Wirft man einen Blick auf die Literatur, die auf Königliche Hoheit folgte und also nach 1909 erschien, fällt auf, dass die genannte krisenhafte Problematik sich verstärkt fortsetzt und sich nunmehr auch in den formalen und strukturalen Dimensionen der Werke niederschlägt. Durch vertiefte Subjektivierung gelingt es Marcel Proust in seinem Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913-1927), den quasi-autobiographischen Roman zu einem hochdifferenzierten Instrument von psychologischer Introspektion, Gesellschaftssatire und Erkenntniskritik fortzuentwickeln. Bei Virginia Woolf, auf knapperem Raum in Fahrt zum Leuchtturm (1927), werden soziale und psychologische Konstellationen sowie ästhetische Erfahrungen in einer multiperspektivischen und assoziativ fließenden Bewusstseinsprosa gespiegelt. Noch stärkere literarische Innovationen gehen von James Joyces Ulysses (1922) aus, in dem eine Vielfalt von Erzählgesten, darunter dem ’stream of consciousness‘, erprobt werden. Die zunehmende Reflexion der Autoren nicht nur der Welt gegenüber sondern auch in Bezug auf die eigene künstlerische Verfahrensweise zeigt sich unter anderem in der Einbeziehung essayistischer Prosa in das Erzählwerk, so bei André Gide in dessen Roman Die Falschmünzer (1926), in Hermann Brochs Die Schlafwandler (1931/32) und in Der Mann ohne Eigenschaften (1930/43) von Robert Musil. (vgl. J. Vogt Aspekte erzählender Prosa, S. 230 – 242)
Die Werke, die Thomas Mann selber nach Königliche Hoheit schreibt – Der Tod in Venedig und Der Zauberberg – scheinen formal wie inhaltlich an die hier grob nachgezeichnete Entwicklung der europäischen Erzählprosa wieder anzuknüpfen, wobei diese Entwicklung an Thomas Manns zweitem Roman spurlos vorbeigegangen zu sein scheint.
Soll man Thomas Manns eigenen Aussagen zum Roman Glauben schenken, lag dies jedoch nicht in seinen künstlerischen Absichten. Ganz im Gegenteil wollte er sich mit seinem zweiten Roman ausdrücklich von der traditionsgebundenen Machart des Buddenbrooks absetzten und der Gattung Roman, deren Aufwertung gegenüber dem Drama ihn gerade in diesen Jahren sehr beschäftigte, neues Blut zuführen, sie erheben. 1939, in Verbindung mit der Veröffentlichung der amerikanischen Übersetzung des Romans, erklärt er, dass eine Weiterführung des Buddenbrooks-Stils seinen eigenen Ansprüchen nicht genügt hätte, dies würde seinem Wahlspruch „novarum rerum cupidus zu sein“ nicht entsprechen. „Ich suchte nach neuen Wegen“, fährt er fort, „hatte sie in den Novellen, die zunächst auf ‚Buddenbrooks‘ folgten, längst gesucht und ging sie in ‚Königliche Hoheit‘ weiter. Was mir künstlerisch am Herzen lag, war die geistige Auflockerung und Durchhellung eines vom neunzehnten Jahrhundert ererbten und in ‚Buddenbrooks‘ treulich geübten massiven und durchaus lebensernsten Naturalismus, seine Erhöhung und Erheiterung zum symbolischen, für das Ideelle transparenten geistigen Kunstwerk. In dieser Richtung war ‚Königliche Hoheit‘ ein Fortschritt …“. In seinem Oeuvre habe die Prinzengeschichte seinen notwendigen Platz, so dass ohne sie weder ‚Der Zauberberg‘ noch ‚Joseph und seine Brüder‘ zu denken seien (GW XI S. 574).
Es geht aus diesen Bemerkungen hervor, dass Königliche Hoheit in Thomas Manns Selbstverständnis sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht eine Entwicklung von etwas poetologisch Neuem darstellte, das zudem auch ein notwendiger Meilenstein im Gesamtwerk war. Man mag einwenden, dass Thomas Mann diese Bewertung seines zweiten Romans aus langer Distanz vornimmt – es sind 30 Jahre seit der Erscheinung des Werkes vergangen – und dass sie vielleicht eine nachträgliche taktische Aufwertung eines im Grunde misslungenen Werkes darstellt. Bereits in den Jahren der Entstehung äußerte sich Thomas Mann jedoch in ähnlicher Weise zum Roman. Dezember 1907 schreibt er an Philip Witkop:
„Mein Roman wird mich noch den ganzen Winter in Anspruch nehmen. Er ist unglaublich schwer möglich zu machen und bedarf der höchsten Vorsicht. Er ist etwas wie eine Allegorie, ein Märchen, ein Sinngedicht, ein Scherz mit „tieferer Bedeutung“, – etwas Persönliches und Neues, immerhin, wie mir scheint“
Dann in Juli 1909 an Hugo von Hofmannsthal, der den Roman kürzlich gewürdigt hatte:
„Sie brauchten auch das Wort Allegorie, und dieses Wort ist ja aesthetisch recht sehr in Verruf. Mir scheint trotzdem die poetische Allegorie von grossen Massen eine hohe Form zu sein, und man kann, scheint mir, den Roman nicht besser erhöhen, als indem man ihn ideal und konstruktiv macht“.
Und auch noch in Dezember 1909 an Ludwig Ewers:
„denn obgleich Fischer sich über den Verkauf von Königliche Hoheit nicht zu beklagen hat, habe ich bisher in den Stössen von thörichten Referaten, die erschienen sind, kaum ein Wort der Würdigung für das Neue und Eigentümliche gefunden, das etwa in dem Buch enthalten ist“.
Diese Zitate belegen, dass sich Thomas Mann im höchsten Grade mit der Poetik beschäftigte und dass es ihm sehr stark am Herzen lag, dass ihm der zweite Roman als modernes ästhetisches Gebilde gelang. Was er bis dann nur in der Kleinform, in den Novellen, erprobt hatte, sollte nun auf den Roman als etwas Neues verwendet werden. „Idee“, „Konstruktion“ und „Allegorie“ sind die Begriffe, die aus diesen Zeilen hervorstechen und die einen künstlerisch-qualitativen Schritt in Richtung Intellektualisierung der künstlerischen Produktion signalisieren.
Betrachtet man Königliche Hoheit aus dieser autor-intentionalen Perspektive, wirkt die Beurteilung des Romans als „zu leicht“ und „operettenhaft“ befremdlich. Es wirft die Frage auf, ob Thomas Mann denn die Umsetzung seiner neuartigen künstlerisch-poetologischen Absichten im Werk nicht gelungen ist – oder ob Ohl und andere den Roman zu leicht gelesen haben?