Die Wahl Thomas Manns, in seinen zweiten Roman Elemente vom Märchen aufzunehmen, mag auf den ersten Blick verwundern: Denn wie ist zu erklären, dass ein Autor, der sich als seriöser Künstler versteht, in der Periode der Modernität ein Märchen, oder zumindest ein Roman mit starken Märchenzügen schreibt?
Es zeigt sich jedoch, dass diese Wahl gar nicht so unzeitgemäss ist, denn Thomas Mann hat in der Tat prominente Zeitgenossen, in deren Werken das Märchen eine bedeutende Rolle spielt: Hofmannsthal, Musil und Döblin (siehe Bettina Kümmerling-Meibauer: Die Kunstmärchen von Hofmannsthal, Musil und Döblin, Böhlau Verlag 1991; im folgenden BKM).
Kümmerling-Meierbauer schreibt:
„In der Auseinandersetzung mit ihrem Selbstverständnis als Dichter haben Hofmannsthal, Musil und Döblin sich Gedanken darüber gemacht, ob die Dichtung sich durch eine besondere Erkenntnishaltung auszeichne und wie ihr Verhältnis zur Wissenschaft beschaffen sei. Sie erhofften sich dadurch Lösungsvorschläge für die konstatierte Existenz-, Sprach- und Gesellschaftskrise, die um die Jahrhundertwende von vielen Künstlern und Denkern bemerkt wurde. Die drei Autoren forderten deshalb ein pluralistisches Modell der Erkenntnisformen, das Widersprüche zulässt und mehrere Denkweisen einbezieht“ (37). Der Dichtung werde dabei die Aufgabe zugestanden, über die Realität hinauszugehen und in der „Überwirklichkeit“ („Überrealität“) eine weitere Stufe der Wahrnehmung von Welt darzustellen. „Das Märchen scheint ihnen eine geeignete Erzählform zur Veranschaulichung der „Überwirklichkeit“ zu sein“(56).
Die drei genannten Autoren verwenden also gerade Motive und Strukturen des Märchens als künstlerische Mittel zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einer aus den Fugen geratenen Wirklichkeit, als Mittel zur volleren und tieferen Erkenntnis der Welt. Konnte das auch bei Thomas Mann der Fall sein?
Ein Unterschied zwischen ihnen und Thomas Mann scheint jedoch in der Tatsache vorzuliegen, dass die meisten Märchen der drei Autoren tragisch oder unglücklich enden. Laut BKM zollen Hofmannsthal, Musil und Döblin dadurch der Einsicht Tribut, „dass das traditionelle Märchenschema nicht ohne weiteres mit den Problemen der modernen Gesellschaft in Einklang zu bringen ist. Wenn sie auch eine märchenhafte Weltdeutung annehmen, so bleibt der Kontrast zur Alltagswelt so gravierend, dass die Realität gegenüber dem Märchen die Oberhand behält“(106). Ein unbeschränktes Märchenglück lasse sich für diese drei Dichter der Modernität nicht mehr erreichen (222). Davon weicht Königliche Hoheit sichtlich ab, denn dieser Roman endet ja glücklich. Thomas Mann scheint also hier dem traditionellen Märchenschema gefolgt zu sein, und trotz der Übereinstimmung mit seinen Zeitgenossen hinsichtlich der dichterischen Stoffwahl scheint ihm das Märchen daher eher zur Affirmation wirklicher Zustände oder Möglichkeiten zu dienen, mögen diese persönlicher oder auch gesellschaftlich-kultureller Art sein.