Das Untersuchungsziel von Ulrich Dittmann ist es, zu erhellen, wie sich in Thomas Manns Werk die Sprachkrise am Anfang des 20. Jahrhundert, die insbesondere von Hugo von Hofmannsthal angesprochen wurde, widerspiegelt, genauer: wie der Autor Thomas Mann sich mit dieser Problematik in seinen Werken auseinandersetzt (S. 9). Dieser Untersuchungsansatz geschieht bewusst vor dem Hintergrund, dass sich kaum eindeutige Belege von seiten Thomas Manns zur vorgeblichen Sprachkrise oder gar zu einer generellen Problematik der Sprache auffinden lassen (S. 9).
Dittmann meint „eine in der Werkchronologie ausweisbare Wandlung im Verhältnis des Autors zu den Phänomen der Sprachkrise belegen“ zu können (S. 21). Dabei will Dittmann ausdrücklich auf die Einbeziehung der Eigenaussagen des Autors zu seinen Werken verzichten (S. 21).
In Bezug auf Königliche Hoheit fängt Dittmann zunächst aber nicht bei einer Beobachtung der im Romantext verwendeten Sprache an, sondern bei Thema und Handlung des Romans. Ausgehend von seiner Analyse der früheren Novellen Thomas Manns will er in Königliche Hoheit eine fortgesetzte Entfaltung der Sonderlingsmotivik sehen:
„Die Sonderlingsmotivik wird aufgegriffen und erfährt in fast allen Figuren eine abgewandelte Ausprägung. Die Verfallsmotivik der Buddenbrooks kehrt wieder in der Schilderung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes, in dem die königlichen Hoheiten ihr besonderes Leben führen. Diese Motivik wird jedoch wie die Sonderlingsmotivik nur bedingt entfaltet: Der Verfall führt in der Vereinigung zweier „Sonderfälle“ zu neuem Wohlstand“ (S. 75).
Diese Vereinigung zweier gegensätzlicher „Hälften“ zu einem Ganzen ist die Hauptthese Dittmanns über die Botschaft des Romans.
Dittmanns sprachorienterter Ansatz bringt eine besondere Aufmerksamkeit sowohl auf die Erzählweise als auf die Redeformen der fiktiven Figuren mit sich. Mit Inge Diersen will Dittmann im Roman eine „andere Sprache“ hinter den konkret berichteten Umständen wahrnehmen:
„Der Erzähler des Geschehens ist abzusetzen von dem, der in der Sprache der Entsprechung den Roman aufbaut … Der Chronist berichtet und kommentiert […] die Geschehnisse. […] Deren eigentliche Bedeutung und ihre Beziehungen im Hinblick auf die Thematik des Romans sind erst aus der Sprache des ihm überlegenen Erzählers abzulesen, der im Bericht des Chronisten die Motivik entfaltet“. (S. 75)
Dass es somit zwei Erzähler gibt – den Chronisten und einen ihm überlegenen Erzähler – ist ein interessanter Befund. Wie die andere Sprache zustande kommt, erklärt Dittmann folgendermaßen:
„Der überlegene Erzähler wird innerhalb des Geschehens durch einen Arrangeur der Ereignisse vertreten. Als eine Art Lustspielgott führt der „Minister des Inneren, des Äusseren und des grossherzoglichen Hauses“ durch seine Regie die Hochzeit herbei. Sein dreifaches Ressort wird bei jedem seiner Auftritte erwähnt und verweist auf die Bedeutung dieser Figur, die von ihrem Amt her den Gegensatz vereint, von dem diese Untersuchung ausging. Diesem Minister zollt der „Chronist“ seine Bewunderung“( S. 75).
Die hier postulierte Verbindung zwischen der Figur Knobelsdorff und dem überlegenen Erzähler, finde ich zweifelhaft. Dieses Postulat fusst auf einer Annahme, dass die eigentliche Thematik des Romans darin besteht, die Vereinigung der beiden Sonderlinge Klaus Heinrich und Imma Spoelmann herbeizuführen. Liesse sich das nicht ohne einen Knobelsdorff tun? Und ist die Figur Knobelsdorff nur ein Agens des überlegenen Erzählers? Ist diese Figur als Teil der Handlungsebene, auf der sich Klaus Heinrich und Imma bewegen, nicht auch interpretationsbedürftig?
Dittmann behauptet: „Die Hochzeit führt zu einem „Ganzen“, das als menschliche Ganzheit zu verstehen ist“ (S. 76). So folge der Roman zwar einem „topisch-vorgeprägten und märchenhaft-unwahrscheinlichen literarischen Schema“, dieses „Handlungsklichee“ werde aber dadurch legitimiert, dass die beiden Hauptfiguren … die Ergänzung für ihre in der Isolation entleerten Sonderlingsexistenzen finden (S. 77).
Eine glückliche Versöhnung des Allgemeinen mit dem Besonderen will Dittmann darin sehen, dass der Name Klaus Heinrich und der Titel ‚Königliche Hoheit‘ in der Abbreviatur „K.H.“ am Ende des Romans zur Deckung kommen. Doch muß Dittmann zugeben, dass die Initialen den vollen Namen nicht zum Ausdruck bringen, sondern eben nur eine Abkürzung darstellen, weshalb er sich genötigt sieht, seine Aussage von der Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem in der Figur Klaus Heinrichs etwas einzuschränken.
In der folgenden Analyse der Figur des Großherzogs Albrecht kommt es bei Dittmann zu einer Fehllesung, die nicht unbedeutend ist. So meint Dittmann, dass Albrecht seinen Titel als Königliche Hoheit ablegt und sich in Isolation zurückzieht (S. 78). Dies ist aber nicht der Fall. Albrecht gibt seinen Titel nicht auf. Am Ende des Kapitels „Albrecht II“ wird vielmehr eine Vereinbarung zwischen Albrecht und Klaus Heinrich gemacht, die dahin lautet, dass Klaus Heinrich die repräsentativen Aufgaben des Grossherzogs – und nur diese – übernimmt. So denkt Albrecht in bezug auf Klaus Heinrichs Rolle „nicht einmal Regentschaft, sondern nur Stellvertretung – vielleicht erinnerst du dich aus irgendeinem Kolleg dieser staatsrechtlichen Unterscheidungen –, eine dauernde und amtlich festgelegte Stellvertretung in allen repräsentativen Funktionen …“
Diese Stellvertretung könnte sehr wohl signalisieren, dass Klaus Heinrich am Ende der Erzählung als eine Art Marionette dasteht, dass er immer noch an ausserpersönlichen Formalia gebunden bleibt. Später kommt Dittmann in der Tat selber auf diese Stellvertretung Klaus Heinrichs zu sprechen und sieht darin eben eine uneigentliche Beziehung. Dittmanns Analyse scheint hier unscharf und wackelig.
Dittmann deutet nun die Figur des Doktors Überbein als Gegenpol zu Albrecht, der aus Menschlichkeit auf den Titel verzichte. Konträr hierzu strebe Überbein eine aussermenschliche Hoheit an, und in dem Moment, wo dieses Ziel durch die Hochzeit von Klaus Heinrich und Imma widerlegt wird, begeht Überbein Selbstmord und „dankt gleichsam als Mensch ab“ (S. 78).
„Die ausschliessliche Ausrichtung auf einen der Pole [Albrecht auf das nur persönlich-besondere, Überbein auf das überpersönlich-allgemeine], die am Ende vereint werden, führt bei diesen entgegengesetzten Figuren jeweils zum Scheitern“ (S. 78).
Klaus Heinrich aber gelinge es, die Mitte zwischen diesen Polen zu finden. So will Dittmann – und erst hier kommt die Sprache in seiner Analyse zum Zuge – in der von Klaus Heinrich verwendete Sprache, in der er sowohl Zitate und Elemente aus der Redewendungen des aussermenschlich-allgemeinen Doktors Überbein und des menschlich-sachbezogenen Schusters Hinnerke gebraucht, eben diese Mittelstellung verwirklicht sehen.
„[Klaus Heinrich] repräsentiert gleichsam die Problematik aller Figuren, die auch im Prinzen ihre Lösung findet. Sie vollzieht sich dadurch, dass in der zweiten Hälfte des Romans die Sprache des Prinzen nicht länger auf das Sprechen um des Sprechens willen, auf die „Scheingegenstände“ festgelegt bleibt und der Bezug auf das „Höhere“ des Titels relativiert wird: Über eine auf Sachlichkeit ausgerichtete Sprache ergibt sich die Möglichkeit zu einer menschlichen Aussage im Gespräch mit Imma“ (S. 80)
Obwohl aber Imma Klaus Heinrich wegen dessen Scheinexistenz kritisiert, ist sie selber keineswegs der Kritik überhoben. Sie gebraucht grosse Wörter, ohne ihren wirklichen Bezug zur Realität zu kennen. Sie treibt die abstrakte Algebra „in den Lüften“. Klaus Heinrich und Imma finden aber zusammen im Studium der Finanzbücher, die eine Beschäftigung mit sachlichen Dingen beinhaltet. Da sie beide jedoch erkennen, dass sowohl das Repräsentieren als auch die Algebra ungleich schwerere Aufgaben sind, werden diese unsachlichen Existenzformen nicht zugunsten der Sachlichkeit aufgehoben. „Sie werden nur zu einer allgemeinen und sachlichen Grundlage in Beziehung gesetzt, die selbst der Repräsentanz und der Algebra untergeordnet wird“ (S. 81).
Obwohl die beiden Hauptfiguren in gewisser Weise immer am Unsachlichen verhaftet bleiben, scheint Dittmann zu meinen, dass eine Anwendung der Sprache auf sachlichen Dingen doch einen Weg zur Überwindung der Sprachproblematik, wohl auch der Sprachkrise, eröffnet. Ihm muss aber entgegengehalten werden, dass mit einer einfachen, sachlichen Entsprechung von Sprache und Wirklichkeit wohl kaum die vermeintliche Sprachproblematik gelöst ist, entspringt diese Problematik ja doch gerade der Erkenntnis, dass eine solche Entsprechung abhanden gekommen ist.
Nach seiner bisherigen auf Ganzheit und Wohlfahrt ausgerichtete Analyse mutet es etwas überraschend an, wenn Dittmann doch zu dem Schluss kommt, dass der Roman nicht eindeutig glücklich endet:
„Imma vertritt ihren Vater und Klaus Heinrich seinen Bruder – beide Figuren stehen also in einer uneigentlichen Beziehung zu dem Vertretenen. Die Ganzheit des Menschlichen wird also nicht unmittelbar hergestellt“.
Auch die letzten Worte des Romans, die von den beiden Hauptfiguren ausgesprochen werden, sieht Dittmann in einem kritischen Licht:
„Denn Imma stellt sie [i.e. die Ganzheit des Menschlichen] in Frage und bewahrt die kritische Haltung, der Klaus Heinrich eine Formel entgegenstellt, die trotz ihrer widersprüchlichen Formulierung als Formel eigentlich nur kritisch zu sehen ist“ (S. 81).
Von diesem Standpunkt aus kritisiert Dittmann mehrere Interpretationen des Schlusses des Romans durch andere Forscher als zu eindeutig. Vielmehr liege die menschliche Ganzheit – den einzelnen Figuren völlig unbewusst – in den Bezügen, in welche die Figuren gestellt sind, dem Roman voraus und wird durch deren Sinnerfüllung im Fortgang des Geschehens konkretisiert (S. 82):
„Es läuft also in Königliche Hoheit ein Vorgang ab, der dem Geschehen in Buddenbrooks entgegengesetzt ist. Wurden in dem ersten Roman Thomas Manns der Familienname und Titel des Werkes von der letzten Vertreterin der Familie zum Begriff entleert, so wird hier ein Begriff aufgefüllt und für zwei in ihrer Gegensätzlichkeit eng aufeinander bezogene Figuren zum neuen Namen“ (S. 83).
Für Dittmann ist dieser letztendliche Sinnerfüllung von dem Namen ‚Königliche Hoheit‘ ein Vorgang der Allegorisierung:
„Die Allegorisierung der Sprache im Roman lässt in der abgenutzten Zeitungssprache des Chronisten das Wort dadurch ‚neugeschaffen‘ werden, dass es über die besondere menschliche Einheit der beiden Hauptfiguren neu erfüllt wird“ (S. 83).
Die auf der Handlungsebene vollzogene Hochzeit der beiden Hauptfiguren leistet nach Dittmann also die Neuschaffung des Wortes und der Sprache. Diese Neuschaffung habe aber keine Entsprechung in der wirklichen Welt, sie sei lediglich ein Kunstspiel:
„Indem die Sprache ganz auf den unwirklichen Märchenbereich der Hoheiten beschränkt bleibt und keine Entsprechung außerhalb dieser findet – auf reale Namen hat Thomas Mann ganz bewusst verzichtet – bleibt die erreichte Einheit in gewisser Weise selbstgenügsames Ergebnis der Konstruktion“ (S. 84).
Zusammenfassend kann ich nur beifallen, dass Dittmann die Sprache ins Zentrum einer Untersuchung des Mannschen Werkes rückt. Die Untersuchung bewegt sich jedoch meistenteils auf einer verallgemeinernden und postulierenden Ebene, was die verscheidenden ‚Erkenntnisse‘ Dittmanns über den Roman erheblich schwächt.
Seine Behauptung, der Begriff der menschlichen Ganzheit werde im Fortgang der Handlung mit Inhalt gefüllt, weil zwei Personen, die beide Sonderlinge seien, heiraten, ist schwer nachzuvollziehen. Seine Argumentation ist so allgemein und unscharf, dass sie darauf hinausläuft, dass alle Liebesgeschichten, die glücklich enden, eine Neuschaffung der Sprache leisten. Dies ist aber offensichtlich nicht haltbar. Dittmanns eigene Zweifel am eindeutig glücklichen Ende des Romans scheinen denn auch zu bestätigen, dass seine Hauptthese von der Herbeiführung einer menschlichen Ganzheit auf keinem sicheren Grund steht. Im Laufe seiner Untersuchung werden die Schwierigkeiten deutlich, diese Menschlichkeit einigermaßen klar dem Leser zu erklären. Zudem macht er selber mehrere Beobachtungen im Text, die diese postulierte Menschlichkeit untergraben oder zumindest in einem zweideutigen Licht stellen. Auch in seiner Beurteilung des Schlusses des Romans schwankt Dittmann, denn er kann den formelhaften Worten Klaus Heinrichs keinen Glauben schenken. Schließlich versucht er die Menschlichkeit in der künstlerischen Konstruktion selber zu verorten. Wie aber der Konstruktion an sich ‚Menschlichkeit‘ zugeschrieben werden kann, bleibt in Dittmanns Untersuchung völlig ungeklärt.
Der Verdienst der Untersuchung liegt – trotz deren argumentatorischen Schwächen – m.E. darin, dass zum ersten Mal in der Forschung zu Königliche Hoheit das Augenmerk auf die Erzählverhältnisse des Romans gerichtet wird, und dies in zweifacher Hinsicht: Zum einen, dass es einen Erzähler, einen Chronisten, gibt, der den Stoff liefert, der aber nicht das letzte Wort hat, da hinter ihm ein noch überlegener Erzähler steht, der den Stoff auf seine Weise ausnutzt. Zum anderen, dass die Figuren keine absoluten Wahrheiten aussprechen, sondern an ihrer jeweiligen subjektiven Perspektiven gebunden und in ihrer Weltauffassung davon eingeschränkt sind.
Da doch die Klärung der Erzählverhältnisse eines literarischen Textes zu den Grunddisziplinen der Interpretationslehre gehört, muss es wundern, dass so viele Interpreten von Königliche Hoheit – bis hinauf zur Gegenwart – die Erzählverhälnisse wenig, wenn überhaupt, in ihre Deutungen des Romans einbeziehen. Die Erzählverhältnisse sind überaus wichtige integrale Bestandteile der Komposition des Romans, und erst die Erfassung der kompositorischen Gestalt in allen Einzelheiten und in ihrer Gesamtheit kann die Botschaft des Romans erschliessen. Ich gebe Thomas Mann dazu das letzte Wort:
Wahrheit ist drei- bis vierdimensional und kann höchstens gestaltet, aber niemals gesagt werden. (Thomas Mann am 17.11.1915 an Ernst Bertram).