Der Aufsatz in Thomas Mann – Der Dichter und Schriftsteller von Martin Havenstein von 1927 über Königliche Hoheit ist eine eigenartige Mischung von Lob und Interpretation. Der Aufsatz kann demnach schwerlich beanspruchen, unter einem strikt wissenschaftlichen Gesichtspunkt beurteilt zu werden. Da er aber von späteren und professionellen Thomas Mann-Forschern zitiert wird (u.a. Baumgart, Koopmann, Zöller, Rickes), soll er hier als einer der ersten Repräsentanten der fachlich-wissenschaftlichen Beschäftigung mit Königliche Hoheit dennoch kurz behandelt werden.
Für Havenstein ist Königliche Hoheit das lebensvollste von allen Werken Thomas Manns, denn hier hat der Autor, der sonst das Kranke, das Hinwelkende und verfallende Leben dargestellt hat, ein einziges Mal dem Glück, dem Optimismus ein Zugeständnis gemacht (184). „Hier ist sie ihm gelungen, die „Synthese“, die lebendige Vereinigung der Gegensätze, zwischen denen es sonst bei ihm nur zu einer „flüchtigen Berührung“ kommt, und so wölbt sich über diesem Werke, und über ihm allein, ein blauer Himmel des Glücks und der Vollkommenheit, dessen Anblick uns mit Andacht und Wohlgefühl erfüllt“ (185). Havenstein kann sich folglich den kritischen Rezensenten nicht anschließen, die den Roman nach dessen Erscheinen als „familienblattmäßig“ und „charakterlos“ abgetan hatten (184).
Was Havenstein insbesondere an dem Roman lobt, ist dessen Wirklichkeitstreue. Laut Havenstein ist an der im Roman beschriebenen Repräsentativität eines Fürsten unmittelbar nichts überraschendes, was aber dennoch überrascht, seien die Klarheit und die Tiefe, womit dieses fürstliche Sein im Roman künstlerisch dargestellt sei. Leider gelingt es Havenstein nicht, dem Leser begreiflich zu machen, worin diese Wirklichkeitstreue des Romantextes konkret besteht, er nennt sie „Vereinfachung, Steigerung und Verwesentlichung der Wirklichkeit“, kurz „Idealisierung, die aller echten Dichtung eigen ist“ (188). Dabei greift er jedoch ein Thema auf – die Beziehung des Romans zur zeitgenössischen Wirklichkeit – das in der gesamten folgenden Forschungsgeschichte zu Königliche Hoheit immer wieder auftaucht und auf das ich später/anderswo zurückkommen werde.
„Königliche Hoheit ist kein politischer Roman. Nicht um politische, sondern und ethische und ästhetische Probleme handelt es sich darin“ (190). Der hohe Beruf, zu dem Klaus Heinrich erzogen wird, beinhaltet eine ganz bestimmte Beziehung zum Leben und zur Gemeinschaft: „Diese Existenz hebt ihren Träger heraus aus der Gemeinschaft der Menschen, das „warme, herrliche Wir“, das in den Niederungen des Menschentums den einzelnen so wohlig und stärkend umschließt, es dringt nicht hinauf bis zu ihrer Höhe. Jede Vertraulichkeit und Herzlichkeit, alles Sich-Aussprechen, Sich-Anlehnen, Sich-Hingeben, es sei an eine Person oder an eine Sache, ist hier verpönt. Die repräsentative Existenz, in ihrer äussersten Gestalt, wie sie hier dargestellt wird, fordert die volle Entnatürlichung der Persönlichkeit. Sie verlangt von ihrem Träger, dass er sein individuelles, konkretes Menschentum von einem konventionellen und abstrakten völlig aufsagen lasse“ (191) .. [solche Existenzen] erlahmen unter der Last, die sie zu tragen haben, und gehen zuletzt an Erschöpfung zugrunde“ (192). Dafür sei Klaus Heinrichs Vater ein klares Beispiel, und dasselbe Schicksal drohe auch Klaus Heinrich. Hier stößt Havenstein zu einem anderen Thema vor, das in der Forschungsliteratur oft wiederholt und von vielen Forschern sogar als die Hauptdeutung des Romans vorgetragen wird, nämlich das Thema von der abgesonderten Existenz, von den Sonderlingen und Sonderfällen.
Ein weiteres Thema, das von Havenstein berührt und das auch späterhin von vielen Forschern aufgegriffen wird, ist das Märchenhafte am Roman: „[Die Dichtung] ist ja ein philosophisches Märchen, Klaus Heinrich ein Märchenprinz. In jedem Märchenprinz aber steckt die Menschheit. Um das rechte und vollkommene Menschentum handelt es sich in dem Roman, nicht bloß um das rechte Fürstentum. Erst wenn wir dies empfunden und erkannt haben, verstehen wir diese durch und durch pädagogische Dichtung ganz. Die Tendenzen, die Klaus Heinrichs Dasein zu bestimmen suchen, treten ja, fordernd und formend, an jeden heran, der vermöge seiner Lage und Anlage berufen ist, ein rechter Mensch zu werden, ein Mensch im Sinne des Zeitalters der Humanität“ (195). Was Havenstein an dem Märchenhaften des Romans interessiert sind nicht so sehr die märchenhaften Züge an sich – z. B. in welchen Mass sie sich mit dem Volks- oder Kunstmärchen decken -, sondern dessen menschheitliche und lehrhafte Dimension. Die märchenhaften Elementen im Roman sieht Havenstein als Mittel zum Zweck, um allgemeine Aussagen über das Menschsein machen zu können, und dies eben in einer anweisenden, belehrenden Weise.
Diese pädagogische Lehre liefere dann das weitere Schicksal Klaus Heinrichs. Dank einer im Vergleich zum Vater und Bruder gesünderen Konstitution widerstrebe es Klaus Heinrich, ein abgesondertes, nun repräsentatives Leben führen zu müssen (193). Ihm verlange es danach, „die Welt zu sich einzulassen“ (193). Die Rettung kommt alsdann in der Gestalt von Imma Spoelmann, die für Havenstein die wünschbare und ideale Synthese darstellt: „In Imma Spoelmann erscheint nun das Rechte und wahrhaft Menschenwürdige: die Verschwisterung des sachlich bürgerlichen und des aristokratisch repräsentativen Seins in einer Person“[..]“Sie stellt diese Synthese in ihrer Person dar und weiß ihr auch im Wesen und Leben ihres fürstlichen Liebhabers zur Geltung und Wirklichkeit zu verhelfen“(199). Abschließend formuliert Havenstein: „Hier stellen wir nur noch einmal fest, dass Thomas Mann in diesem Roman, von glücklichen Sternen geleitet, vermocht hat, was seiner zerspaltenen, zweiflerischen Art sonst versagt scheint, und wozu er sich doch, als deutscher Dichter, im Tiefsten getrieben und verpflichtet fühlt: In klaren Gestalten das Ideal darzustellen und so an der sittlichen Bildung des Volkes zu arbeiten“(199-200)
Dieses auf ein wünschbares Ziel hin verlaufende Schicksal, das Havenstein im Roman erkennen will, offenbart nun ein zusätzliches Thema, das man in der Forschungsgeschichte zu Königliche Hoheit in unterschiedlichstem Gewand begegnet und das davon handelt, inwiefern Thomas Mann in Königliche Hoheit einen Sinn hat vermitteln wollen, dem es nur auf neutrale, vielleicht gar entlarvende Erkenntnis (etwa des fürstlich-repräsentativen Daseins oder der abgesonderten Existenz) ankommt oder der (auch) auf eine Wünschbarkeit, auf eine ‚Anweisung‘ zum Glück, zur Ganzheit, zu menschlicher Synthese abzielt. Havenstein steht eindeutig für das letztere ein. Dieses Thema, das ja grundsätzlich mit der Funktion der Kunst zu tun hat, beschäftigt Thomas Mann in den Jahren der Entstehung von Königliche Hoheit im höchsten Grade. Ich werde später/anderswo darauf zurückkommen.
In Havensteins Interpretation kommt die Auffassung vom Vorschein, dass das Auftauchen der Familie Spoelmann ein Zäsur markiert, die den Roman in zwei Hälften einteilt. Was davor liegt, ist die Darstellung der problematischen inhaltleeren Existenz, was danach kommt ist der rettende Prozess hin zum Heil. Diese Weise, den Roman zu betrachten, herrscht ebenso in den meisten späteren Forschungsbeiträgen vor, und sie wird ja auch unmittelbar von einer realistischen Lesart des Romans kräftig unterstützt.
An der Echtheit des Happy End des Romans, das schon bei dem Erscheinen des Romans ein vieldiskutiertes Aspekt wurde – zudem mit schwankender Stellungnahme von Seiten des Autors selbst – ist bei Havenstein kein Zweifel. Havenstein scheint sich sogar über Thomas Manns eigene Zugeständnisse an die Kritiker des optimistischen Romanschlusses zu ärgern. In der gesamten Forschungsgeschichte gibt es, so weit ich sie überschauen kann, keinen Forscher, der sich nicht explizite zum Romanschluss verhalten hat.
Soviel zu den inhaltlichen Aspekten von Havensteins Aufsatz. Hinsichtlich der poetologischen und interpretatorischen Aspekten ist der Aussatz außerordentlich schweigsam. So äußert sich Havenstein nirgends ausführlich zu der ästhetischen Eigenart des Romans. In der Einleitung seines Buches spricht er kurz von der ‚Musikalität‘ der Mannschen Werke, und geht in diesem Zusammenhang auch flüchtig auf die Leitmotivik Thomas Manns ein. Weder Musikalität noch Leitmotive werden jedoch in dem Aufsatz über Königliche Hoheit bemüht. Es geht aber deutlich hervor, dass Havenstein den Roman gemeinhin als einen realistischen Roman liest, der das darstellt, wovon er handelt. Dies erklärt auch, dass er dem Roman Wirklichkeitstreue bescheinigt.
Zu seinem interpretatorischen Verfahren äußert sich Havenstein nicht. Dies muss vom Leser ermittelt werden, was aus einem strikt literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkt natürlich nicht zufriedenstellend ist. Deutlich ist doch, dass Havensteins Interpretation in der Praxis in hohem Grade auf Paraphrasen von Handlungselementen und von den Beschreibungen einiger der Hauptfiguren, weit weniger auf direkten Zitaten fußt. Dazu ist zu bemerken, dass die Paraphrase ja – als Wiedergabe eines Textausschnitts mit anderen Worten – in sich auch eine Interpretation von dem Text darstellt. Eine Paraphrase führt somit eine neue Bedeutungsebene ein, die im Text selber nicht vorhanden ist. Deren Verwendung birgt die Gefahr, dass die resultierenden interpretatorischen Aussagen, die sich auf die Paraphrase stützen, sich vom Text entfernen und damit dem Text gegenüber unscharf oder unpräzise ausfallen.
Wo Havenstein bemüht ist, aus dem Text eine – wie er sagt – „tiefere“ Bedeutung herauszulesen – im Fall seiner Deutung des Romans als eines philosophischen Märchens vom rechten Menschentum – geschieht dies jedoch ausdrücklich unter Zuhilfenahme eines textexternen Bezugrahmens: In seiner früheren Schrift „Vornehmheit und Tüchtigkeit“ hat sich Havenstein mit der bürgerlichen und der aristokratischen Existenzform auseinandergesetzt. In Imma Spoelmann will er wie gesagt die Synthese eben dieser Existenzformen sehen. Inwiefern ein solches Verfahren gelingen kann, wird in hohem Masse davon abhängen, dass eine Entsprechung zwischen den Begriffen dieses Bezugrahmens und den Sinneinheiten im Romantext überzeugend nachgewiesen werden kann. Die methodischen Herausvorderungen, die aus einem solchen Vorgehen entstehen, werden von Havenstein nicht dargelegt, geschweige denn reflektiert. Sein Verfahren ist indessen keineswegs einmalig. In der Thomas Mann-Forschung wird häufig von textexternen Bezugrahmen Gebrauch gemacht, um die „tiefere“ Bedeutung der Werke zu erschließen, sei es die Philosophie Nietzsches oder die Schopenhauers, oder gar Thomas Manns sogenannte Selbstaussagen zu seinen Werken. Ich werde auf die besonderen Herausforderungen dieses interpretatorischen Verfahrens später näher eingehen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Beitrag von Martin Havenstein manche von den Themen berührt, die in der weiteren fast 100-jährigen Forschungsgeschichte zu Königliche Hoheit ständig behandelt werden. Die Deutung von der abgesonderten Existenz wird von fast allen späteren Beiträgen mit wenigen Variationen wiederholt, während die Deutung des Schicksals Klaus Heinrichs als einer allgemeinmenschlichen Problematik nur von wenigen Forschern verfochten wird. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht lässt der Beitrag wie gezeigt etwas zu wünschen übrig. Viele von den späteren Forschungsbeiträgen zu Königliche Hoheit, die sich als wissenschaftlich verstehen und überdies von einer in vieler Hinsicht reiferen Germanistik als zur Zeit Havensteins haben profitieren können, weisen ähnliche methodische Mängel auf, was etwas nachdenklich stimmen muss.