Die frühe Rezeption (1909-1911) von ‚Königliche Hoheit‘

Die Forschungsgeschichte zu Königliche Hoheit fängt mit den frühesten Rezensionen des Romans in den Jahren 1909 bis 1911 an. Inwiefern die einzelne Rezension als im engeren Sinn zur Forschung gehörig gelten kann, ist nicht immer leicht zu entscheiden. In Anerkennung dieser Schwierigkeit werde ich die frühen Rezensionen im folgenden generell nicht als wissenschaftliche Beiträge behandeln, nur der Beitrag von Ernst Bertram, der zwei Jahre vor der Erscheinung des Romans als Professor der Germanistik promovierte und dessen Deutung des Romans bis heute grosser Anklang (GKFA S. xx) findet, werde ich am Schluss dieses Aufsatzes etwas näher unter die literaturwissenschaftliche Lupe nehmen.

Das Ziel der folgenden Betrachtung der frühen Rezensionen des Romans ist die Einkreisung von Themen und Aspekten am Roman, die zeitnah vorgebracht wurden. Die frühen Rezensionen zeichnen sich durch ihre zeitliche und kulturelle Nähe zum Werk aus. Sie haben deswegen den Vorteil im Vergleich zu späteren Rezensionen und Beiträgen, dass sie teilhaben an den gängigen Diskursen der damaligen Zeit. Dies braucht nicht zu bedeuten, dass sie gegenüber dem Roman treffender oder „richtiger“ sind als die Rezeptionen späterer Kommentatoren, aber …… . Diese Einkreisung von Themen am Anfang der Forschungsgeschichte ermöglicht es, verschiedene Perspektiven auf den Verlauf eben dieser Forschungsgeschichte anzulegen: Welche Fragen für das Verständnis des Romans sind schon hier, vielleicht nur keimhaft, gestellt und wie werden sie im weiteren Verlauf der Forschungsgeschichte bearbeitet oder beantwortet? Welche Themen oder Aspekte, die am Anfang thematisiert wurden, werden im geschichtlichen Verlauf an die Peripherie oder möglicherweise gänzlich aus dem Blickfeld der Forschung gedrängt – und warum? Geraten wertvolle Einsichten der frühen Beobachter aus der Sicht späterer Betrachter? Zeichnet sich im Verlauf der Forschungsgeschichte ein Argumentationszusammenhang ab, bei dem die Erkenntnisse über den Roman verfeinert und verbessert werden?

Die frühe Rezeption des Romans ist in der Grossen Kommentierten Frankfurter Ausgabe (Band 4.2, S. 156-227) vorbildlich dargelegt. Hieraus geht hervor, dass sich mindestens drei grössere Themenbereiche herauskristallisieren lassen:

  1. Inhaltliche Aspekte des Romans
  2. Stilistisch-formale Aspekte im Romantext
  3. Aspekte hinsichtlich der künstlerischen Machart des Romans

Inhaltliche Aspekte (Bezug zur Wirklichkeit, Happy End, Märchenzüge)

Es scheint keinem Zweifel zu unterliegen, dass es der Inhalt des Romans war, der die ersten Rezensenten am meisten beschäftigte, ja geradezu herausforderte. Die Debatte, die der Roman auslöste, war so mannigfaltig und beizeiten so vehement, dass in der GKFA von einer Streit die Rede ist:

„Der frühe Streit um Königliche Hoheit ist bestimmt von heftigen und manchmal erstaunlichen Meinungsunterschieden […] Im Streit liegen die Kritiker also schon darüber, ob es sich um einen politisch-satirischen „Serenissimus-Roman“ handle oder um eine dezidiert unpolitische Künstler-Allegorie; um eine aggressive Verspottung der Monarchie aus demokratischem Geiste … oder eine liebevolle Verteidigung eben der Monarchie; um eine naturalistische Milieustudie, die der Bürgerwelt der Buddenbrooks nun die monarchisch-aristokratische Sphäre gegenüberstellen soll, oder im Gegenteil um ein modernes Märchen, das mit gesellschaftlicher Wirklichkeit nichts zu tun haben will“ (159).

Diese Bestandsaufnahme bezieht sich deutlich auf die inhaltlichen Deutungen des Romans, die spezifischer unter der Frage nach dem Bezug des Romans zur zeitgenössischen Wirklichkeit zusammengefasst werden können. Haben wir es – so lautet die Frage – mit einem Roman zu tun, der sich – kritisch oder affirmativ – zur Zeitgeschichte verhält, oder sind die scheinbar realen Elemente des Romans nur Vordergrund und „Einkleidung“ für eine dahinterliegende Problematik des Künstlertums? Dass es im Roman tatsächlich Bezüge zur Wirklichkeit gibt, wird kein Leser bestreiten.

Bei Ludwig Ewers herrscht kein Zweifel, dass der Roman der realen Wirklichkeit um die Jahrhundertwende widerspiegelt. So schreibt er:

„Wer Schwerin, Oldenburg, Dessau und andere Residenzen deutscher Kleinstaaten kennt, wird die Echtheit der Residenz Grimmburg bestätigen“ (172).

Auch K. Korn will im Roman einen gewollten Bezug auf die zeitgenössische Wirklichkeit sehen, beklagt er doch „die hanebüchenen Anachronismen zwischen dem achtzehnten und zwanzigsten Jahrhundert“. Diese Anachronismus-Kritik entfaltet sich dann voll, als sich 1910 Prinzessin Feodora von Schleswig-Holstein, Schwägerin Wilhelms II., unter den Rezensenten meldet. Nach ihr gehe die zeitgenössische Fürstenerziehung ungleich moderner und aufgeklärter vor als im Roman dargestellt (194). Für Hermann Bahr machen aber gerade die Anachronismen eine wesentliche Pointe des Werkes aus, denn sie zeigten eben eine anachronistisch gewordene Monarchie, ja eine überlebte bürgerliche Gesellschaftsform überhaupt, die so an den Pranger gestellt wird (179). In gleicher Weise sieht Ernst Bertram im Roman die Schilderung einer monarchischen Idee, die in einem modernen politischen Sozialgebilde seine ehemals gebietenden Funktion verloren habe und nur noch Illusion sei (83). Sowohl für Bahr (S. 90) als auch für Richard Moritz Meyer wohnt dem Roman dann doch eine Zukunftsperspektive inne, denn mit dem glückhaften Schluss ziele er auf eine Erlösung von den misslichen gesellschaftlichen Zuständen, von dem „marionettenhaften Zeremoniell“, „von der Alltagshölle“ (190) ab.

Mit Bahrs und Meyers Hervorhebung einer Zukunftsperspektive taucht die Frage nach der Bewertung des Romanschlusses, des Happy Ends, auf. Über die Auslegung dieses Endes scheiden sich die Geister. So findet sich in den Rezensionen von Richter (S. 165), Kalkschmidt, (S. 166), Eloesser (S. 169), Pfemfert (S. 171) und Böckel, S. 171) regelrechter Zweifel an der Glücksaussage des Romans. Auch Ernst Bertram kann dem Glück am Ende keinen Glauben schenken. Er schreibt:

„Diese optimistische Wendung ins Alltagsglück, die Vereinigung der beiden in ihrer Einsamkeit unsicher oder scheinbar lieblos gewordenen Menschenkinder zu einem gemeinsamen „strengen Glück“, in „Hoheit und Liebe“, sie hat zu deutlichen Märchenstil, als dass hier etwas wie eine Lösung des Nichtzulösenden psychologisch gemeint wäre“ (85).

Ernst Bertram ist einer der wenigen unter den frühen Rezensenten, der die These vertritt, dass der Roman im Grunde als Ausdruck der Problematik des Künstlers gelesen werden muss. Ausgehend von einer Besprechung von Thomas Manns bisherigem Werk und vor allem von Fiorenza und mit einem angehängten Zitat von Bilse und Ich lautet Bertrams Deutung des Romans wie folgt:

Königliche Hoheit: Das ist wiederum eine andere dieser tragischen Komödien von der repräsentativen Einsamkeit und dem darstellerischen Gegensatz zur lebendigen Gesamtheit. „Für viele zu stehen, indem man für sich steht, repräsentativ zu sein, auch das, scheint mir, ist eine kleine Art von Grösse. Es ist das strenge Glück der Fürsten und Dichter“ (Bertram S. 83).

Diese Auslegung des Romans als eine verkappte Künstler-Allegorie wird sich im Verlauf der Forschungsgeschichte mit wenigen Variationen und Hinzufügungen zu einer bevorzugten, wenn nicht gar der am meisten bevorzugten Auslegung des Romans einbürgern.

Festzustellen ist somit, dass die frühe Rezeption eine der grundlegendsten Fragen der Poetik adressiert, nämlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit. Damit ist eine fundamentale Frage an den Roman gestellt, die von keinem Interpreten, implizit oder explizit, umgangen werden kann. Wie diese Frage in der folgenden Forschungsgeschichte behandelt wird, werde ich an späterer Stelle  besondere Aufmerksamkeit widmen.

Auch die Märchenzüge des Romans wurden von einigen der frühen Rezensenten bemerkt. Im oben angeführten Zitat von Ernst Bertram geht hervor, dass dieser den Märchenzügen ein Aspekt des Entrückten zuschreibt, denn diese Züge sind es vor allem, die das festliche Ende des Romans ins Unwirkliche aufhebt. Anders bei Hermann Bahr, dem das Märchen das individuelle ins Allgemeine hebt:

„In Märchen kommt kein Mensch, sondern der Menschenstamm vor“ (89).

Die Hauptfiguren des Romans seien keine individuelle Persönlichkeiten, sondern Typen, die gerade wegen ihres Pochens auf Individualität, Typen des bürgerlichen Zeitalters seien:

„Sie sind nur Figuren ihrer wirtschaftlichen Bedingungen“ (90)

Durch diese Erhebung des individuellen ins Allgemeine leiste das Märchen im Roman dasselbe wie der Marxismus in seinem Verständnis der gesellschaftlichen Dynamiken: Es deute treffend die Wirklichkeit und die Menschen am Anfang des 20. Jahrhunderts. Hiermit hat Bahr eine bemerkenswerte Antwort auf die Frage nach der Funktion der Märchenzüge im Roman gegeben, eine Antwort, die fast das entgegengesetzte im Vergleich zu Ernst Bertram aussagt. Während für jener die Märchenzüge die reale Handlung des Romans ins Allgemein-Gültige hebt, lösen sie bei dieser die Wirklichkeit des Romans in Unverbindlichkeit auf. Beide Kommentatoren verfahren allerdings sehr summarisch mit ihrer Argumentation, und ihre Auslegungen bedürfen so auf jeden Fall der weiteren Untermauerung. Diese für den Roman zentrale Frage nach der Funktion der Märchenzüge ist damit der drauffolgenden Forschung zur Klärung aufgegeben.

Stil- und Formaspekte

Die frühen Rezensenten verhalten sich auch zu der Frage, wie der Gehalt des Romans an den Leser vermittelt wird. Es geht hier um die stilistisch-formalen Aspekte des Romans und in erster Linie darum, ob der Roman sich eines ironischen oder gar parodisch-satirischen Stils bedient.

Bei Bertram relativiert nicht nur der Märchenstil den Romanschluss, dies tue auch „eine allerletzte heimliche und trübe Selbstironie“ (Bertram, S. 85). So sehen auch Monty Jacobs „eine humorgesättigte Ironie“ (161), Eugen Kalkschmidt „eine ironische Färbung des Erzählten“ (166), Hermann Wendel „die feinste und zugespitzteste Ironie“ (167) und später Kurt Martens „eine scharfe Lauge von Ironie“ (188) im Werk, während jedoch Franz Servaes dem Roman umgekehrt jede Ironie abspricht (162). Sowohl Georg Martin Richter als Fritz Böckel wiederum sehen alles im Roman „in das unbarmherzige Licht der Satire“, wenn nicht gar der Posse, gestellt (165, 171).

Die Begriffe von Ironie und Satire werden bei diesen Rezensenten nicht näher erläutert und auch nicht mit Beispielen aus dem Text konkretisiert. Es werden Meinungen vorgebracht, keine eigentliche Analyse der Stilphänomene. Die frühen Rezensenten haben jedoch auf Stilaspekte aufmerksam gemacht, die auch einbezogen werden müssen, will man den Roman in seiner Ganzheit zu verstehen versuchen.

Die künstlerische Machart

Bertrams Beitrag ist auch deswegen interessant, weil er sich mit der künstlerisch-technischen Machart des Romans beschäftigt. Im Roman verwirkliche Thomas Mann die meisterliche Kunst des ‚strengen Satzes‘ und das Ganze lasse den Ton der beabsichtigten Konstruktion nicht vergessen. Es ist überhaupt, schreibt Bertram,

„trotz des fabelhaft Atmosphärischen der geschilderten Dinge, gar kein realistischer Stil .. Es bleibt immer, und soll bleiben, das Bewusstsein des Unrealen, des lebendigen Kunstgespinstes, des Metaphysischen und des Spiels. Die Szene wird niemals zur Illusionsbühne. Das gibt auch diesem neuen Buch den mit Worten nicht zu umschreibenden Reiz des Gewirkten, Wählerischen, Teppichhaften…“(Bertram S. 86).

Interessanterweise kommt auch Hermann Hesse in seiner Würdigung des Romans auf dessen Technik zu sprechen, jedoch mit entgegengesetztem Tenor. Im Vergleich zu Buddenbrooks, in dem alles „so absichtslos, unerfunden, natürlich und überzeugend wie ein Stück Natur“ gewesen sei, erscheine ihm Königliche Hoheit als

„ein Roman in gutem und schlechtem Sinn, eine Erfindung und künstlerische Arbeit, ein Gewolltes, dem wir mit Interesse, Liebe, Bewunderung, aber nicht mit solcher selbstvergessener Hingenommenheit folgen“ (186).

Insbesondere missfällt Hesse die Art, womit Thomas Mann in diesem neuen Roman mit seinen Lesern umgeht, wie er mit ihnen spielt. Hinter dem Rücken der gewöhnlichen Leser zwinkere der Text den überlegenen Lesern heimlich zu und sage alles Feine und Ernsthafte so zart und nebenbei, dass die meisten Leser es nicht merke. Dies sei eine Technik, die nur ganz äusserlich mit der Kunst etwas zu tun habe (187). In seiner Antwort auf Hesses Kritik verweist Thomas Mann auf seinen Enthusiasmus für die Kunst Richard Wagners und dessen ‚wechselnde Optik‘ – einen Begriff, den Thomas Mann von Nietzsche übernommen hatte und der später in der Thomas Mann-Forschung unter der Bezeichnung der doppelten Optik eingegangen ist.

Begründung der Deutung

Wie gesagt sind die ersten Rezensionen eben Rezensionen und keine im strengen Sinn wissenschaftlichen Beiträge. Solche folgen erst später in der Forschungsgeschichte des Romans. Wie anfangs gesagt war jedoch Ernst Bertram schon zur Zeit der Erscheinung des Romans Professor der Germanistik. Seinem Beitrag dürfen deswegen einige professionelle literaturwissenschaftliche Kompetenzen zugeschrieben werden. Und weil eben Bertrams Deutung des Romans als einer Künstler-Allegorie sich später so massiv in der Forschung durchgesetzt hat, soll hier kurz erläutert werden, wie diese Deutung bei Bertram begründet wird.

Bertrams Auslegung des Romans ist unter interpretationsmethodischer Sicht sehr interessant, weil er dem Roman Bedeutung zuweist, die der Roman selber nicht direkt und unmissverständlich ausspricht. Klaus Heinrich wird im Roman ausdrücklich als Agnat und Prinz, nirgendes aber als ‚Künstler‘ bezeichnet. Wie also kommt Bertram in seinem Aufsatz vom ‚Agnat/Prinz‘ zum ‚Künstler‘?

Zunächst ist festzustellen, dass Bertram in seinem Aufsatz keine Textbelege aus dem Roman selber bringt. Die erste Hälfte seiner Besprechung von Königliche Hoheit ist gar nicht diesem Roman gewidmet, sondern früheren Werken, insbesondere Tonio Kröger und Fiorenza. In diesen Werken will Bertram eben die künsterische Verarbeitung des Künstler- und Einsamkeitsthema sehen, und der neue Roman liest er dann von der Perspektive aus. So wird Königliche Hoheit von Bertram als die neueste Variation dieses Grundthemas bei Thomas Mann betrachtet. Etwas zugespitzt kann man sagen, dass hier eine Extrapolation von den früheren Werken auf Königliche Hoheit vorgenommen wird. Ferner ist zu bemerken, dass Bertram seine Deutung durch die Einbeziehung von Aussagen Thomas Manns abstützt, die dieser in anderem Zusammenhang gemacht hat. Wie aus dem oben angeführten Zitat hervorging, zitiert Bertram aus Manns Essay Bilse und Ich, was ganz offensichtlich geschieht, um die (allegorische) Verknüpfung von Prinz und Künstler herzustellen. Diese Verknüpfung von Prinz und Künstler erfolgt bei Bertram nicht über Belege aus dem Romantext selber sondern über Ausschnitte aus einem anderen, zudem nicht künstlerischen Text von Thomas Mann.

Diese beiden interpretatorischen Vorgehensweisen – das Einzelwerk aus der Perspektive des Gesamtwerkes heraus zu deuten und textexterne, nicht-künstlerische Aussagen des Autors als Stütze, Argument, ja als „Schlüssel“ für die Ermittlung der ‚tieferen‘ Bedeutung seines Werkes zu verwenden, werden sich in der weiteren Forschungsgeschichte zum Roman – und ganz vorrangig in Verbindung eben mit der Deutung des Romans als Künstler-Allegorie – als zwei überaus verbreitete und meistens stillschweigend anerkannte Methodiken einbürgern.

Mit dieser Erläuterung, wie Ernst Bertram seine Deutung von Königliche Hoheit begründet, will ich nicht dafür argumentieren, dass seine Deutung falsch ist. An ihr kann durchaus etwas Zutreffendes sein. Ich will auch nicht behaupten, dass ein Interpret keine textexternen Begründungen für seine Deutung verwenden darf. Worauf ich aufmerksam machen möchte, ist die Tatsache, dass diese Deutung in der Tat nicht einmal  teilweise auf dem Romantext selber beruht. Aus meiner Sicht sollen Deutungen von sprachlichen Kunstwerken auf keinen Fall auf Belege aus dem in Frage stehenden Werk verzichten, weswegen ich eine klare Schwäche in Bertrams Deutung sehe.

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